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Anreise/Anfahrt

Stolperstein "Mathilde Braun"

Geboren am 22.06.1916
Gestorben am 07.03.1941 in Bernburg

Vita

Aus dem Vortrag Stolperstein 08. Dezember 2018 von Volker van der Locht für Mathilde Braun

*22. Juni 1916 – †7. Februar 1941

I.

Wir befinden uns hier ungefähr an der Stelle, wo Mathilde Brauns letzter freiwilliger Aufenthaltsort war. Es handelt sich um die heute nicht mehr existierende Amalienstr.25, Essen-West. Aufmerksam auf Mathilde Braun bin ich durch eine Gräberliste des Parkfriedhofs geworden. Die Aufstellung listet Namen von Menschen auf, die während des Nationalsozialismus in Konzentrationslagern und anderen Vernichtungsanlagen ermordet worden waren. Mathilde Braun wurde am 9. Oktober 1941 auf dem Parkfriedhof Huttrop beerdigt. Als Todesort wurde Bernburg angegeben – eine der so genannten Euthanasie-Anstalten; in denen die Kranken vergast und danach verbrannt wurden.

Wer war Mathilde Braun? Sie wurde 1916, während des Ersten Weltkriegs, geboren. Es war eine Zeit, in der die Bevölkerung insgesamt unter der Lebensmittelknappheit zu leiden hatte. Als Folgen davon litten einige Kinder unter der „englischen Krankheit“, deren typische Skelettverformungen unter anderem zu verspätetem oder ausbleibendem Sitzen, Stehen und Gehen führten. Dies traf offensichtlich bei Mathilde zu, da sie frühestens mit drei Jahren zu laufen begann. Ihr Vater gab später dazu an, „dass sie lange an der engl. Krankheit gelitten“ habe.

„Weil meine erste Frau fast immer krank war, hat das Kind bis zu seinem 5. Lebensjahr stets im Stühlchen gesessen und niemand konnte sich seiner annehmen. Es hat demzufolge mit niemandem spielen, auch sich mit keinem anderen Kinde unterhalten können.“

Mit sechs Jahren kam sie regelgerecht auf die Volksschule, wurde aber zwei Jahre später aufgrund der Entwicklungsverzögerungen zur Hilfsschule (heute: Förderschule für Kinder mit Lernbehinderungen) überwiesen. Nach Abschluss der Schule fand sie ein Jahr auf einem Bauernhof eine Beschäftigung und arbeitete 1934 bis 1935 in dem Mutter-Kinderheim Schloss Schellenberg in Rellinghausen. Die Oberin des Heims, Schwester Theresiana, berichtete über die junge, nun zwanzigjährige Frau:

„Mathilde B erschien hier geistig und körperlich minderwertig, zurückgeblieben, aber nicht eigentlich schwachsinnig. Sie zeigte sich auf ihre Art oft raffiniert schlau, besonders, wenn es galt, ihre sehr starke Triebhaftigkeit, zumal in sexueller Hinsicht, zu befriedigen. Dabei war sie in der Arbeit faul, im Umgang oft frech und gemein. Aus diesen Gründen war sie eine Gefahr für unsere anderen Schützlinge und konnte nicht länger hier bleiben.“

Dieser Beurteilung folgte später das Erbgesundheitsgericht, das auf Antrag des Leiters des Essener Gesundheitsamtes, Dr. Ludwig Fleischer, am 28. Oktober 1936 über Mathilde Brauns Unfruchtbarmachung verhandelte. Als Grund hatte Fleischer die Indikation „angeborener Schwachsinn“ angegeben. Vor Gericht konnte Mathilde Braun viele Fragen nach dem Fragebogen zur Intelligenzprüfung richtig beantworten. Das Gerichtsprotokoll vermerkte dazu:

„Auf Befragen: Der Kaffee wird deshalb gemahlen, weil man die ganzen Bohnen nicht in das Wasser werfen kann. Der Papst wohnt in Rom. Wo Rom liegt, weiß ich nicht.

Das Sprichwort, der Krug geht solange zu Wasser bis er bricht, kann die Erbkrankverd. nicht erklären. Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr, ist von ihr richtig erfasst worden. Das Sprichwort, Lügen haben kurze Beine, kann die Erbkrankverdächtige trotz Nachhilfe nicht erklären (…) Die Hälfte von 56 ist 28, 5 x 6 = 35, dann 30.“

Auch ihr Vater, der ihr gesetzlicher Vertreter war, musste als Zeuge aussagen. Er gab unter anderem an, dass eine Schwester der Großmutter seiner Frau in einer Anstalt, und der Großvater mütterlicherseits Trinker war. Er selbst und Mathildes Mutter seien aber geistig in Ordnung. Sämtliche Aussagen und schriftliche Stellungnahmen flossen in das Urteil zur Unfruchtbarmachung ein. Darin heißt es:

„Die 20-jährige Erbkranke leidet an angeborenem Schwachsinn. Dies geht aus dem Gutachten des Amtsarztes und aus der Intelligenzprüfung hervor. Sie machte in der Jugend englische Krankheit durch und lernte spät Laufen und Sprechen. Nach zweijährigem Volksschulbesuch kam sie auf die Hilfsschule, wo sie die Oberklasse erreichte. Später ist sie ein Jahr bei einem Bauern und dann in dem Kinderheim Schloss Schellenberg in Essen tätig gewesen. Sie hat aber in dieser Stellung nicht ausgehalten. Sie zeigte sich dort geistig und körperlich zurückgeblieben. Sie war außerordentlich triebhaft und unangenehm im Umgang. Da sie infolge ihrer Triebhaftigkeit eine Gefahr für die anderen Schützlinge des Heimes bot, wurde sie entlassen. Auch ihre Arbeitsleistungen waren unbefriedigend. Die Intelligenzprüfung zeigt, dass der Gedankenablauf sehr verlangsamt und gehemmt und die freie Denkfähigkeit nur dürftig entwickelt ist. Sie versagt gerade bei den Fragen, bei denen eine etwas freiere Denkfähigkeit erforderlich ist. Die Lösung einfacher Unterschiede, Fragen und Sprichworterklärungen misslingt. Anzeichen für eine äußere Ursache des Schwachsinns fehlen. Dagegen fällt positiv ins Gewicht, dass der Vater ihrer Mutter dem Trunke ergeben war. Eine Halbschwester der Großmutter mütterlicherseits soll in einer Anstalt gewesen sein. Bei alledem hält das Gericht angeborenen Schwachsinn für erwiesen. Um zu verhüten dass die Erbkranke ihr Leiden auf Nachkommenschaft überträgt, ist gemäss § 1 des Erbgesundheitsgesetzes vom 14. Juli 1933 wie geschehen beschlossen worden.“

Aufgrund dieses Gerichtsbeschlusses wurde Mathilde Braun im Februar 1937 in die Städtische Frauenklinik, der heutigen Universitäts-Frauenklinik, eingewiesen und vom Oberarzt Dr. Pütz sterilisiert.

II.

Nun könnte man meinen, der NS-Staat habe sein Ziel erreicht, Mathilde Braun könne keine sogenannten erbkranken Kinder mehr bekommen und ließe sie in Ruhe. Dem war aber nicht so. Entweder kam sie nach dem Sterilisationseingriff von der Städtischen Frauenklinik in die dortige Psychiatrie, oder sie entwickelte später eine Depression als Folge der Sterilisation. Es war besonders für Frauen zu der Zeit wichtig, zu heiraten und die Mutterrolle einzunehmen. Mit der Unfruchtbarmachung war diese gesellschaftliche Rollenerwartung für Mathilde Braun unmöglich geworden, so dass depressive Verhaltensweisen von ihrem Umfeld als auffällig wahrgenommen wurden, und zur Einweisung in die städtische Psychiatrie des heutigen Essener Klinikums geführt haben könnte. Das Krankenhaus war zu der Zeit eine Durchgangsklinik. Das heißt: Konnten Patientinnen oder Patienten nach einem mehrwöchigen Aufenthalt nicht von ihren psychischen Erkrankungen geheilt und entlassen werden, galten sie als „Bewahrungsfälle“, das heißt, sie galten als dauerhaft anstaltspflegebedürftig. Trat dies ein, kamen die Betreffenden in die Provinzialheil- und Pflegeanstalt (heute Landesklinik) Düsseldorf-Grafenberg. Mathilde Brauns Aufnahme in Grafenberg ist datiert auf den 28. März 1938, also gut ein Jahr nach der Unfruchtbarmachung. Von dort wurde sie später – der Zeitpunkt ist unklar – nach Bedburg-Hau verlegt.

Bedburg-Hau bildete dann einige Monate nach Beginn des Zweiten Weltkriegs den Ausgangspunkt der ersten rheinischen Opfer im Rahmen der Erwachseneneuthanasie an behinderten und psychisch kranken Menschen. Sie trug den Tarnnamen „Aktion T4“ – benannt nach der Tiergartenstraße 4 in Berlin. Dort residierte die Verwaltung zur Durchführung der Krankenmorde. Erste organisatorische Voraussetzungen für die Durchführung von Tötungstransporten im Rheinland wurden vermutlich in einer Besprechung zwischen Prof. Heyde von der Berliner Euthanasie-Zentrale mit den zuständigen Beamten beim Oberpräsidenten in Koblenz geschaffen. Aufgrund dieser Konferenz, die wahrscheinlich Ende 1939 stattfand, kam es zu den ersten größeren Deportationen aus Bedburg-Hau. Etwa 2.000 Patientinnen und Patienten wurden verschleppt, um in der Klinik Platz für ein Marinelazarett der Wehrmacht zu schaffen. Im März 1940 kam es in diesem Zusammenhang zur Verlegung von 1.742 Frauen und Männern. Zielorte waren die Anstalten im heutigen Sachsen-Anhalt Waldheim, Haldensleben und Jerichow, im heutigen Sachsen Altscherbitz, in Thüringen Pfafferode, in Württemberg Marbach und Zwiefalten, in Hessen Herborn, Eichberg und Weilmünster, sowie in Brandenburg Görden und Brandenburg.

Im Verlauf der Deportationen wurde Mathilde Braun am 8. oder 9. März 1940 in die Landesheilanstalt Brandenburg-Görden verlegt. Der Transport umfasste 274 Personen, 62 Männer und 212 Frauen. Görden war eine der Zwischenanstalten, die Patienten der nahe gelegenen Gasmordanstalt Brandenburg zuführte. Die meisten der Überführten fanden dort den Tod. Als das Mordzentrum Brandenburg im September 1940 geschlossen wurde, nahm als Ersatz die Euthanasieanstalt Bernburg an der Saale mit dem Brandenburger Personal unter Leitung von Dr. Irmfried Eberl ihren Betrieb auf. Die Verlegung von Mathilde Braun hierhin erfolgte am 7. März 1941. Noch am gleichen Tag wurde sie ermordet. Ihre Beisetzung fand aber erst am 9. Oktober 1941 auf dem Essener Parkfriedhof statt.

Die unterschiedlichen Daten sind nicht zufällig. Die Fachleute der Euthanasie-Zentrale gaben gegenüber den Angehörigen und den Behörden verspätete Sterbedaten an, um zusätzliches Geld einzunehmen. Denn die Kostenträger mussten nur bis zur Entlassung oder dem Tod eines Anstaltspatienten Pflegegeld zahlen. Wurde der Todeszeitpunkt – wie bei den Euthanasieopfern geschehen – verspätet angegeben, konnte man für die Tage, die der Patient schon tot war, noch Einnahmen erzielen. Das war auch nach NS-Recht ungesetzlich!

III.

Die Opfer der erbbiologischen Selektionspolitik und deren Angehörige mussten in der Nachkriegszeit erleben, dass ihren Interessen kein Gehör geschenkt wurde und ihr Leiden durch den Verlust vom Angehörigen völlig aus dem Blick geriet.

Im Verlauf des Jahres 1957 sollten auf der Grundlage des Kriegsgräbergesetzes vom 27. Mai 1952 die Gräber der NS-Opfer auf den Essener Friedhöfen umgebettet und neu gestaltet werden. Dazu gehörten auch die Gräber auf dem Parkfriedhof, wo Mathilde Braun beerdigt wurde. Mit einem Standardbrief wurden aber nur die Familien der KZ-Opfer angeschrieben. Nicht ein Anschreiben an die Angehörigen eines Euthanasieopfers ist überliefert. Ihre Gräber existierten gemäß der ursprünglichen Liste zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Das bedeutete: Nur die Ehrenanlage für KZ-Opfer wurde auf dem Parkfriedhof gestaltet. Die Euthanasieopfer wurden verschwiegen und vergessen.

Literatur

Der Text stützt sich im Wesentlichen auf folgende Quellen:

- Haus der Essener Geschichte/Stadtarchiv, Kartei und Akten Erbgesundheitsgericht Essen, Einwohnermeldedaten.

- Volker van der Locht, Zwangssterilisation und Euthanasie in Essen. In: Essener Beiträge. Beiträge zur Geschichte von Stadt und Stift Essen. 123. Band 2010, Essen 2010, S. 153-253

Grund der Verfolgung

Grund der Verfolgung: Euthanasie
Deportiert am: 28.03.1938
Deportiert nach: Landesklinik Düsseldorf-Grafenberg

Stolperstein

  • Verlegt am 08.12.2018
  • Adresse: Berthold-Beitz-Boulevard / Pferdebahnstraße
  • Stadtteil: Altendorf
  • Steinlage: Link zum Kartenportal