75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges rücken die Hinterlassenschaften dieser Zeit verstärkt in das Blickfeld der Archäologie der Moderne. Dabei fällt es noch immer schwer, die Öffentlichkeit von der Notwendigkeit archäologischer Untersuchungen an Zeugnissen dieser jüngsten Vergangenheit zu überzeugen. Dies gilt gerade in einer Großstadt wie Essen, die hart durch den Zweiten Weltkrieg betroffen war. Essen war seit 1940 das Ziel von etwa 245 Luftangriffen, bei denen über 6.300 Menschen ihr Leben verloren. Nach den Bombenangriffen im Frühjahr 1943 brach das öffentliche Leben vielerorts zusammen, zumal weitere schwere Luftschläge, vor allem im Herbst 1944 und zuletzt am 11. März 1945 folgten. So blieben von den rund 650.000 Einwohnern zu Beginn des Zweiten Weltkrieges am Kriegsende noch etwa 285.000 übrig.
Mit dem Wiederaufbau wurden die unübersehbaren äußerlichen Spuren des Krieges – die schweren Zerstörungen im Stadtbild und an den Industrieanlagen – praktisch vollständig und schnell beseitigt. In Essen existiert heute kaum noch ein Standort, an dem Hinterlassenschaften dieser Zeit sichtbar erhalten geblieben sind. Selbst Bunkeranlagen, die dauerhaftesten Zeitzeugnisse, sind in den letzten Jahrzehnten Bauvorhaben zum Opfer gefallen. So sind die Spuren rar geworden, die einen Blick auf die Kriegsereignisse erlauben.
Im Boden erhalten blieben gewaltige Mengen an Kriegsschutt, wie er beispielsweise in den 1950er Jahren als Bau-Untergrund für die Festwiese Verwendung fand und 2002 von der Stadtarchäologie untersucht wurde. Seither entdeckte man auch auf Mülldeponien, wie beispielsweise 2012 an der Glückstraße östlich der Innenstadt, oder 2013 und 2014 an der Bachstraße in Kettwig, zahllose, ihrem ursprünglichen Zusammenhang entrissene Zeugnisse. Sie alle stammen aus den gewaltigen Schuttmassen der zerstörten Ortskerne, die beim Wiederaufbau unter erheblichem Aufwand entfernt werden mussten. Das Schicksal der bei Baumaßnahmen zufällig entdeckten, größeren Objekte aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges war und ist sehr unterschiedlich. Oft genug wurde und wird die Stadtarchäologie von der Entdeckung erst gar nicht informiert. Einzelne Gegenstände wurden bis in die jüngste Zeit hinein bewusst entfernt oder sogar "wiederverwertet": So stahlen Metalldiebe im Jahr 2011 den Zusatztank einer Messerschmitt Bf 109 vor dem Transport in das Ruhr Museum. Ein 2006 an der Stensstraße entdeckter Propeller gelangte dagegen ins Ruhr Museum und ist heute Teil der Dauerausstellung, und noch ein weiterer Propeller, der einer britischen Lancaster aus Bergeborbeck, wurde 2015 dorthin überführt.
Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen, dass den Zeugnissen des Zweiten Weltkrieges aus archäologischer Sicht bisher noch immer viel zu wenig Beachtung geschenkt wurde. Durch ihre Dokumentation können nicht nur Wissenslücken geschlossen werden, die nach dem Zweiten Weltkrieg durch ein Beseitigen, Vergessen, aber auch "Vergessen-Wollen" entstanden sind. Vielmehr kann das öffentlich machen dieser Zeugnisse mahnen und erinnern und damit ein Vergessen verhindern: Selbst 75 Jahre nach Kriegsende handelt es sich immer noch um einen hochsensiblen Themenbereich.